Unternehmen stehen vor einem Dilemma, wenn es um die Verwaltung von Beständen und Betriebskapital geht. Einerseits braucht es angesichts der anhaltenden globalen Störungen, der schwankenden Nachfrage und des unzuverlässigen Angebots höhere Bestände als Puffer. Andererseits üben die Inflation und die schwache Wirtschaft einen immensen Druck auf Unternehmen aus, Lagerbestände zu verringern. Im zweiten Artikel der Serie vervollständigen wir das Bild, wie ein modernes Bestandsmanagement diese Herausforderungen bewältigen kann.

Für einen neuen Ansatz im Inventory-Management muss eine Organisation verschiedene Dimensionen entwickeln. Im ersten Artikel über das Dilemma beim Betriebskapital haben wir die Vorteile einer datengesteuerten und proaktiven Bestandsparametrisierung mit kontinuierlichem Screening des Umfelds und ständiger Anpassung der Zielwerte dargelegt. Wir haben gezeigt, wie Risikobestände – die oft auf der Grundlage von Faustregeln definiert wurden – auf der Grundlage von Daten und Analysen optimiert werden müssen.

Abbildung 1 zeigt drei weitere Säulen, die wir als Schlüsselprinzipien eines modernen Inventory-Managements ansehen:

  • Ein proaktives Management der zugrundeliegenden Treiber bei Beständen, z.B. Nachfrageschwankungen oder Fertigungszeiten, inkl. Verbesserung der Prozessreife.
  • Die Integration des Bestandsmanagements in die Gesamtprozesse und die Unternehmensführung, z. B. in die Finanz- und Budgetplanung.
  • Die Einrichtung eines Kompetenzzentrums, das die fortschrittlichen Fähigkeiten für das E2E-Bestandsmanagement in einer zentralen Einheit bündelt.

Um diese drei Säulen geht es in diesem Artikel.

 

Die sechs Säulen eines modernen Inventory-Managements
Abb. 1: Die sechs Säulen eines modernen Inventory-Managements

Prozessreife verbessern

Die Verbesserung der Prozessreife ist der Hebel zur strukturellen Verbesserung des Betriebskapitals trotz Volatilität und Unsicherheit im Angebots- und Nachfrageumfeld. Unter den gegebenen externen Bedingungen spiegelt die optimale Höhe der Bestände die Reife der Lieferkettengestaltung und -abläufe, wie zum Beispiel Durchlaufzeiten, Fertigungs- und Bestellhäufigkeit, interne Variabilität, Planungsfehler und Netzwerkflexibilität (siehe Treiber wie skizziert), wider.

Wenn Unternehmen diese Hebel wie in Abbildung 2 skizziert in Angriff nehmen, können sie ihre Working-Capital-Effizienz nachhaltig verbessern. Andere Veränderungen sind, überspitzt gesagt, Augenwischerei auf Kosten der Servicequalität und der Kostenleistung. Folglich erfordert der Kosten- und Inflationsdruck kontinuierliche Anstrengungen, um den Reifegrad der Lieferkette strukturell zu verbessern.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine starke funktionsübergreifende Zusammenarbeit erforderlich: Experten aus den Bereichen Fertigung, Qualität, Beschaffung, Logistik und Planung müssen zusammenarbeiten, um die Durchlaufzeiten zu verkürzen und die Zuverlässigkeit der Lieferzeiten zu erhöhen. Nur eine agile und zuverlässige Fertigung ermöglicht den Abbau von Bestandspuffern entlang der Wertschöpfungskette, sei es bei Rohstoffen, WIP oder Fertigwaren.

Ein weiteres Beispiel ist die Minimierung der internen Variabilität und Planungsungenauigkeit, da hohe Bestände manchmal einen Mangel an hochwertiger Planung und Koordination kaschieren.

Dies zeigt sich beispielsweise, wenn falsche Annahmen über die Stundenleistung, die OEE oder die Arbeits-/Materialverfügbarkeit dazu führen, das das Scheduling oder die Produktion auf einer Fertigungslinie auf der Grundlage eines taktischen Plans nicht möglich ist. Dies führt unmittelbar zu zusätzlichen Wartezeiten und indirekt zu suboptimalen Sicherheitspuffern für die Produktion zum Schutz vor Planungsfehlern.

Daher muss das Supply-Chain-Management effektiv mit allen Funktionen zusammenarbeiten, um die Gesamtprozessreife zu erhöhen, was zu einem verbesserten Bestandsmanagement führen wird. Abbildung 4 zeigt die verschiedenen Faktoren, die die Bestände beeinflussen, sowie spezifische Beispiele, die zu einer Erhöhung oder Verringerung der Bestände führen.

Bestandstreiber mit ihren Auswirkungen
Figure 2: Bestandstreiber mit ihren Auswirkungen

Funktionsübergreifend steuern

Inventory-Management kann nur reibungslos funktionieren, wenn eng mit anderen Funktionen über das Supply-Chain-Management hinaus zusammenarbeitet wird und es in eine funktionsübergreifende Governance eingebettet ist. Von besonderer Bedeutung ist die SCM-Integration mit dem Finanzwesen, dem Handel und der Fertigung:

  • Mit Blick auf die Finanzplanung sind zwei Punkte der Integration kritisch, die oft verbessert werden können. Erstens, eine bessere Verknüpfung der Bottom-up-Bestandsparametrisierung mit dem Budgetierungsprozess: Das Supply Chain Management kann die Finanzabteilung besser unterstützen, indem sie Bestandsszenarien bereitstellt, die die Auswirkungen unterschiedlicher Wachstumsraten, Portfolioentwicklungen oder Risikostrategien simulieren. Auf diese Weise können der Bottom-up-Ansatz (volumenorientiert) und der Top-down-Ansatz (wertorientiert) für die Budgetplanung besser aufeinander abgestimmt werden. Zweitens kann das Supply Chain Management mit einer verbesserten Bestands- und Verfügbarkeitsprognose und -simulation über das gesamte Portfolio hinweg mehr Transparenz in den monatlichen Forecasting-Prozess bringen. Eine vorausschauende Bestandsplanung und -steuerung ist besonders wichtig angesichts der negativen Auswirkungen, die späte Zielanpassungen (z. B. der Druck zum Jahresende Bestände zu reduzieren) auf die Stabilität der Lieferkette, die Kosten und den Kundenservice haben.
    Die Integration von Supply-Chain- und Finanzfunktionen ist alles andere als einfach. Unserer Erfahrung nach kann die Supply Chain mit diesen beiden Schritten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Mengen- und Wertperspektive besser aufeinander abzustimmen und den Betrieb zu stabilisieren.
  • Im Hinblick auf eine starke Integration mit regionalen und lokalen Einheiten sind mehrere Punkte entscheidend. Während das Supply Chain Management für die Lagerbestände von Rohstoffen bis hin zu Fertigwaren verantwortlich sein sollte, ist eine starke Governance für Handelsregionen und Ländergesellschaften von großer Bedeutung. Nach unserer Erfahrung sind die Schlüsselelemente einer solchen Steuerung folgende: ein transparenter und offener Abgleich der von der Supply-Chain-Funkion vorgeschlagenen und mit dem lokalen Commercial- und Supply-Chain-Team abgestimmten Bestandsziele; ein systematischer Ansatz zur Festlegung und Aktualisierung der Segmentierung des Portfolios (z. B. auf der Grundlage der strategischen Bedeutung und des Umsatzes der Produkte); ein transparenter Abgleich der wichtigsten Änderungen der Bestandsrichtlinien für Fertigerzeugnisse als Teil des lokalen S&OP; und klare Regeln, wie sich die Prognoseleistung und eine potenzielle Überprognose auf die Zuweisung von Beständen auswirken können.
    Da das Supply-Chain-Management für die optimale Zuteilung der Bestände aus einer unternehmensweiten Gesamtsicht verantwortlich ist, können schwierige Entscheidungen, die sich auf einzelne Regionen und Länder auswirken, nicht vermieden werden – hier ist es unmöglich, es allen recht zu machen. Daher braucht es eine transparente Governance, mit klaren Standards und Offenheit bezüglich der Regeln zur Entscheidungsfindung.
  • Schließlich möchten wir noch die Integration mit Fertigung und External Supply Wie wir bereits dargelegt haben, sind Durchlaufzeiten, Zuverlässigkeit und Kampagnen ein wichtiger Faktor für die Bestandsoptimierung. Wir sehen vier Schlüsselbereiche, in denen eine stärkere Integration zwischen Supply Chain und Manufacturing einen Mehrwert schaffen kann: Erstens eine kontinuierliche gemeinsame Überwachung der Durchlaufzeiten, der Zuverlässigkeit und der Termintreue. Zweitens die gemeinsame Definition und Durchführung einer kontinuierlichen, datengesteuerten Überprüfung von Los- und Kampagnengrößen, bei der Verfügbarkeit, Kosten, Auslastung/Leerlaufzeiten und Kapitalauswirkungen abgewogen werden. Drittens eine gemeinsame Überwachung und kontinuierliche Verbesserung der Fertigwarenbestände, um die Vorproduktion und die Wartezeit im Werk für Tests, Freigabe und Versand zu minimieren. Und viertens: Klare Zuständigkeiten und Prozesse für die Parametrisierung und Verwaltung von Rohmaterial- und Komponentenbeständen. Diese sind der aktuellen Engpasssituation besonders wichtig, werden aber manchmal eher lokal auf Werksebene verwaltet.

Starkes Inventory-Management ist viel mehr als nur Formalitäten und Formeln. Wie oben beschrieben, ist eine starke Governance erforderlich, die die Zuständigkeiten klar abgrenzt, transparente Entscheidungsregeln aufstellt und ein offenes, kooperatives Umfeld zwischen den Bereichen Lieferkette, Finanzen, Handel und Fertigung schafft.

Ein Center of Excellence einrichten

Die große Bedeutung, der funktionsübergreifende Charakter und die Abhängigkeit von Daten und Analysen zeigen deutlich, dass die Bestandskonfiguration und -parametrisierung einen hohen Stellenwert im Unternehmen verdient. Die Bestandsparametrisierung muss datengesteuert sein, und Unternehmen brauchen ein starkes Kompetenzzentrum, das eine transparente Methodik anwendet, um bestandsbezogene Daten entlang der Lieferkette kontinuierlich zu aktualisieren und zu überwachen, die Einhaltung der Parameter für die Bestandsziele zu überwachen und die Bestandsparameter anzupassen.

Dies bedeutet übrigens nicht die Zentralisierung der Entscheidungen im Inventory-Management, sondern eine moderne dreistufige Struktur der Entscheidungsunterstützung und Entscheidungsfindung. Auf der 1. Stufe sorgt das Kompetenzzentrum für eine einheitliche Methodik, Regeln, Prozesse, Daten und Tools, und es führt die Bestandsanalyse und Re-Parametrisierung durch. Auf der zweiten Stufe werden den Supply-Chain-Planern Parameteranpassungen vorgeschlagen, da sie die Analyseergebnisse mit einem tiefen Verständnis der End-to-End-Wertschöpfungskette, der Liefersituation sowie mit ihren Markt- und Portfoliokenntnisse in Zusammenhang setzen können. Auf der dritten Stufe stimmen die Supply-Chain-Planer die entsprechenden Parameteränderungen mit den jeweiligen Stakeholdern ab, z. B. mit den Entscheidungsträgern in den Produktionsstätten, Distributionszentren, Handelsregionen und Tochtergesellschaften.

Ein Kompetenzzentrum schafft somit eine konsistente Grundlage in den Bereichen Data & Analytics, Bestandssimulation und Entscheidungsunterstützung die für Bestandskonfiguration und -parametrisierung.

Der Weg nach vorne

Wie gezeigt erfordert das derzeit schwierige Umfeld einen höheren Reifegrad der Lieferkette. Die Professionalisierung des Inventory-Managements, wie sie in diesem Artikel skizziert ist, ist ein wichtiger Baustein für dieses Ziel. Neben der Überprüfung und dem Benchmarking der aktuellen Lagerbestände, um erste Quicks Wins zu identifizieren, sollten Unternehmen auch einen Schritt zurücktreten und die sechs Elemente für ein modernes Inventory-Management überprüfen. So stellen sie fest, wo weitere strukturelle Verbesserungen möglich sind, um das Betriebskapital langfristig effizienter einzusetzen. Dies kann nur in einer unternehmensübergreifenden Anstrengung gelingen: mit den Supply-Chain-Funktionen in der Hauptrolle und unter enger Einbeziehung von Produktion, Vertrieb und Finanzen.

 

Wir danken Florian Kreitz für seinen wertvollen Beitrag zu diesem Artikel.

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