Unternehmen stehen bei der Verwaltung von Lagerbeständen und Betriebskapital vor einem Dilemma. Einerseits erfordert das aktuelle Umfeld mit globalen Störungen, unbeständiger Nachfrage und unzuverlässigem Angebot höhere Puffer in den Beständen. Andererseits stehen Unternehmen angesichts von Inflation und einer schwächelnden Wirtschaft unter Kostendruck, was dafürspricht, die Bestände möglichst gering zu halten. In unserer Artikelserie erörtern wir, wie dieses Dilemma überwunden werden kann und wie sich die Bestände effizient verwalten lassen.

Im Dilemma: Aufwärts- und Abwärtsdruck auf Lagerbestände

Die Inflation erhöht nicht nur den Druck auf die Kosten von Waren, sie wirkt sich auch auf bewährte Methoden des Lieferketten-Managements aus – etwa auf das Inventory-Management. Da die direkten Kosten für Material, Arbeit, Energie und Transport steigen, werden Herstellung, Lagerung und Versand von Waren deutlich teurer. Der Anstieg der Lagerpreise in den USA um mehr als 10 % im Vergleich zum Vorjahr zeigt das deutlich.[1] Darüber hinaus haben die Zinssätze ein Niveau erreicht, das wir seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen haben. Das erhöht den Druck auf Unternehmen, das Management von Betriebskapital und Lagerbeständen zu optimieren.

Zur Wirtschaftskrise gesellt sich ein weiterer Faktor: Der globale Logistikmarkt hat sich noch nicht von den Auswirkungen der Pandemie erholt.[1] Aufgrund starker Verzögerungen in Produktion und Versand sind die Durchlaufzeiten für Transport und Lieferung von Rohstoffen und Komponenten immer noch schwankend, so dass deterministische Methoden für die Planung und die Bestandsparametrisierung ungeeigneter sind denn je.

Angesichts dieses Dilemmas aus Aufwärts- und Abwärtsdruck auf die Lagerbestände fällt es Unternehmen schwer, bei der Verwaltung der Bestände valide Entscheidungen zu fällen: Ausreichend hohe Bestände sind wichtiger als je zuvor, um die Versorgung in einem störungsanfälligen Umfeld zuverlässig aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig so teuer wie nie zuvor. Wie lässt sich das Dilemma der Bestandsverwaltung überwinden? Unserer Erfahrung nach bedarf es eines grundlegend anderen Ansatzes, um der Herausforderung gerecht zu werden. Er umfasst sechs Dimensionen.

Sechs Säulen eines modernen Inventory-Managements

Ein neuer Ansatz für das Inventory-Management setzt einen gewissen Reifegrad in verschiedenen Dimensionen einer Organisation voraus. Der Schlüssel ist eine datengesteuerte und proaktive Logik der Bestandsparametrisierung mit kontinuierlichem Screening des Umfelds und ständiger Anpassung der Zielwerte. Auch die Risikobestände, die oft eher auf der Grundlage von Faustregeln definiert wurden, müssen auf der Grundlage von Daten und Analysen optimiert werden. Darüber hinaus müssen die den Beständen zugrundeliegenden Faktoren wie Nachfrageschwankungen oder Durchlaufzeiten in der Fertigung proaktiv gesteuert und verbessert werden. Schließlich muss das Bestandsmanagement eng in die Gesamtprozesse des Unternehmens eingebettet werden: Dazu gehört zum Beispiel die korrekte Integration mit der Finanz- und Budgetplanung, aber auch die Einrichtung eines Kompetenzzentrums, das Wissen und Fähigkeiten für das E2E-Inventory-Management in einer zentralen Einheit bündelt. Abbildung 1 stellt diese Säulen dar. Wir werden sie in den folgenden Kapiteln näher erläutern.

Die sechs Säulen eines modernen Inventory-Managements
Abb. 1: Die sechs Säulen eines modernen Inventory-Managements

Daten und Treiber erfassen

Die Grundlage eines modernen Inventory-Managements besteht darin, den Bestand als dynamisch und anpassungsfähig zu betrachten. In dieser Sicht ist er Ergebnis eines kontinuierlichen Datenstroms, der sowohl den Reifegrad der Lieferkette (z. B. Durchlaufzeiten, Planungsqualität, Zuverlässigkeit in der Ausführung) erfasst, wie auch externe Faktoren (z. B. Störereignisse, Nachfrageschwankungen, Zuverlässigkeit der Lieferanten) einbezieht.

Dieser Datenstrom muss sich auf die richtige Ebene der Bestandsparametrisierung beziehen, die auf klaren Geschäftsregeln basiert (siehe Abbildung 2). Auf der Nachfrageseite sind zum Beispiel die kommerziellen Verfügbarkeitsziele und die Priorisierung/Segmentierung wichtige Faktoren für die erforderlichen Sicherheitspuffer. Diese kommerziellen Inputs sind keineswegs statisch, sondern werden ständig granular abgestimmt und angepasst. Auf der Angebotsseite haben zum Beispiel die Engpässe bei Material, Kapazitäten und Arbeitskräften im Jahr 2022 gezeigt, dass Puffer dynamisch an das Umfeld angepasst werden müssen. Daraus folgt, dass die Treiberdaten für die Bestandsanpassungen am besten in einem Data Lake gepflegt und kontinuierlich aktualisiert werden sollten. Dabei kommen Methoden wie Trending und Signalerkennung zum Einsatz, um neue Muster in den Daten frühzeitig zu erkennen.

Treiber bei Nachfrage und Angebot
Abbildung 2: Treiber bei Nachfrage und Angebot

Statt Bestandslevel in der Top-Down-Perspektive zu betrachten, starten wir mit den Treibern, was eine Bottom-up-Betrachtung erlaubt. So können wir die Kosten im aktuellen Lieferketten-Setup besser verstehen. Folgende Fragen sind der Ausgangspunkt für eine nachhaltige Bestandsoptimierung: Welche zugrundeliegende Geschäftssegmentierung unterstützt die Bestandsstrategie, und ist sie noch aktuell? Wie hoch ist die Volatilität der Nachfrage und wie kann die Prognoseleistung verbessert werden? Wie werden die Mengen für Nachbestellungen festgelegt? Hängen sie von den Losgrößen oder der Produktionshäufigkeit ab? Wie wirkt sich dies auf die Lagerbestände aus? Wie hoch ist die E2E-Durchlaufzeit und wie verteilt sie sich auf die verschiedenen Prozessschritte? Wie kann die durchschnittliche Durchlaufzeit reduziert werden, und wie kann die Variabilität um den Durchschnitt herum verringert werden?

Lagerbestände kontinuierlich und proaktiv anpassen

Die ein- oder zweimalige Erfassung von Daten pro Jahr für die Neuberechnung von Bestandsparametern ist eindeutig überholt. Unternehmen müssen zu einer kontinuierlichen Echtzeit-Anpassung der Lagerbestände anhand wichtiger Schlüsseldaten übergehen. Aus unserer Sicht braucht es dafür vier Kernfunktionen:

  1. Alarmbasierte Überprüfung von Datenänderungen bei Treibern auf der Grundlage von Trends und Frühwarnsignalen, die auf spezifische Parameter (z. B. Nachfrageschwankungen) zugeschnitten sind. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um das wertvolle Betriebskapital konsequent dorthin zu verteilen, wo es am dringendsten benötigt wird. Durch die Vermeidung von unproduktiven Beständen mit begrenztem Wert und die Umverteilung auf Hot Spots, die sich aus der Geschäfts- oder Risikoperspektive ergeben, kann das Lieferkettenmanagement einen wichtigen Beitrag für die Resilienz eines Unternehmens leisten.
  2. Wir raten zu automatischen Durchläufen zur Neuparametrierung aller Parameter auf der Grundlage der neuesten Daten auf der Nachfrage- und Angebotsseite mindestens einmal pro Woche.
  3. Die Anwendung einer Segmentierungslogik zur Bestimmung der Parameteranpassungen: Eine solche Logik könnte z.B. auf dem Volumen oder der Wichtigkeit der zugrunde liegenden Produkte basieren. Die Bestandsparameter für weniger wichtige Produkte werden vierteljährlich angepasst, es sei denn, es gibt in ihrem Umfeld eine massive Veränderung. So werden wichtige Produkte vorrangig behandelt.
  4. Nicht zuletzt müssen die wichtigsten Änderungen (das sind diejenigen mit den größten Auswirkungen) überprüft und mit der Handels- und Lieferplanung (zur Bestimmung der Auswirkungen auf den Nettobedarf) und der Finanzabteilung (zur Bewertung der Auswirkungen auf das Betriebskapital) abgestimmt werden.

Risikobestände quantitativ modellieren

In dem störungsanfälligen Umfeld, das derzeit herrscht, spielt die strukturelle Vorbereitung durch die richtige Höhe von Risikobestände eine entscheidende Rolle. Gleichzeitig müssen die Risikobestände durchdacht und wirtschaftlich eingesetzt werden und dürfen nicht nur auf Faustregeln oder Erfahrungswerten beruhen. Daher müssen die Unternehmen die internen Kompetenzen weiter ausbauen und zu einer quantitativen Bestimmung der Risikobestände übergehen.

Sicherheitsbestände werden in der Regel als Puffer zur Abfederung von Unsicherheiten bei Angebot und Nachfrage während der Wiederbeschaffungszeit von einem Knotenpunkt zum anderen definiert. Es ist wichtig zu unterscheiden, dass sich Unsicherheit (z. B. die Nachfrageschwankungen) eher auf die sogenannten “known Unknowns” bezieht, also die bekannten Unbekannten, etwa auf die typische Schwankung der Nachfrage- und Angebotsmuster z. B. in den letzten drei Jahren.

Demgegenüber müssen Risikobestände so dimensioniert werden, dass die Auswirkungen größerer, seltener Störungen (die sogenannten “unknown Unknowns”, unbekannte Unbekannte) auf das Geschäft minimiert werden. Die Logik der Berechnung ist grundlegend anders:

  1. Der erste Schritt ist die Definition von Risikoereignissen, die laut der allgemeinen Risikoeinschätzung abgefedert werden müssen, z. B. eine Produktionsunterbrechung von drei bis vier Monaten, um eine Produktionslinie wieder auf das gewünschte Produktionsniveau zu bringen, basierend auf Branchenereignissen des letzten Jahrzehnts. Dies kann mit der Kennzahl Time-to-Recovery (Zeit bis zur Wiederherstellung) quantifiziert werden, geschätzt als Durchschnitt, der ein mögliches Risikoereignis widerspiegelt.
  2. Anschließend sollten die Risikobestände auf der Grundlage des Umsatzes und der Risikomarge ermittelt werden, in der Regel abgeleitet vom Wert des Produkts. Die gefährdeten Umsätze spiegeln die Höhe der Umsätze wider, die durch die definierten Risikoereignisse gefährdet sind, die zuvor geschätzt wurden (siehe 1).
  3. Anschließend müssen wir den Bestand um einen Faktor bereinigen, der die (bekannte) Angebotsvolatilität berücksichtigt. Außerdem wird nach der Erholung von einem Risikoereignis die übliche Variabilität des Angebots aus dem vorgelagerten Bereich zum Tragen kommen und die Erholung verlangsamen (vor allem, wenn die Lieferkette aus dem Gleichgewicht geraten ist); dagegen müssen wir einen Puffer bilden. Im Falle eines am Anfang der Produktion eingehenden Lagerbestands wäre dies die Lieferfähigkeit des Lieferanten (OTIF).

Im Allgemeinen müssen Risikobestände sehr viel selektiver eingesetzt werden als Sicherheitsbestände. Das Vorhalten von Risikobeständen zur Minimierung des Umsatzrisikos während der Erholung von einem (unbekannten) Ereignis ist teuer und sollte nur für strategisch wichtige Produkte/Kunden oder besonders schwache Knoten in der Lieferkette eingesetzt werden. Daher sollten Risikobestände aus der Perspektive des E2E-Netzwerks eingesetzt werden, indem das verfügbare Budget für Risikobestände den Lagerpunkten mit dem höchsten Umsatzwert oder der höchsten Risikomarge pro 1 Million Euro Risikobestand zugewiesen wird.

Herkömmlich definierter Sicherheitsbestand versus risikoorientiertem Sicherheitsbestand
Abb. 3: Herkömmlich definierter Sicherheitsbestand versus risikoorientiertem Sicherheitsbestand

Abbildung 3 zeigt beispielhaft die Berechnung eines herkömmlich definierten Sicherheitsbestandes mit bekannter Nachfrage und Variabilität der Durchlaufzeit im Vergleich zu einem risikoorientierten Sicherheitsbestand. Die traditionelle Formel führt zu einem Sicherheitsbestand von rund 13 Tagen, während der vorgelagerte, risikoorientierte Sicherheitsbestand auf etwa das Fünffache dieser Menge kommt, einen Bestand von rund 70 Tagen.

Für ein Inventory-Management, das im derzeit schwierigen Umfeld besteht, ist dies noch nicht ausreichend. Der Ansatz muss zusätzlich ergänzt werden: durch eine Methodik zur Verbesserung der allgemeinen Prozessreife und zur Stabilisierung der zugrundeliegenden Triebkräfte der Bestände, durch eine zugrundeliegende Governance, und die Einrichtung eines Kompetenzzentrums (siehe Abbildung 1). Der zweite Artikel der Serie beschäftigt sich mit diesen drei Säulen des Inventory-Managements.

[1] https://www.freightwaves.com/news/viewpoint-inventory-management-key-to-stifling-inflation

Wir danken Florian Kreitz für seinen wertvollen Beitrag zu diesem Artikel.

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