Die Chemische Industrie blickt auf drei Jahre zurück, in denen Themen des Supply-Chain-Managements (SCM) so hoch wie selten zuvor auf der Agenda auch des Top-Managements standen. Unterbrechungen der Lieferketten durch Corona-Einschränkungen, Knappheit von Transport- und Umschlagskapazitäten, der Wegfall von Lieferanten und Kunden durch den Krieg in der Ukraine – Entwicklungen, die zunächt mit dem Aufbau höherer Bestände beantwortet wurden, die jetzt, angesichts unsicherer Konjunkturaussichten, wieder schnell heruntergefahren werden. An Hektik, zum Teil auch Dramatik, hat es nicht gefehlt. Das Supply-Chain-Management von Chemieunternehmen operierte im Dauerkrisenmodus. Angesichts der notwendigen Reaktion auf die Turbulenzen in den Lieferketten kamen konzeptionelle Ansätze oft zu kurz.

Noch ist nicht mit Sicherheit abzusehen, ob 2023 eine Beruhigung bei Lieferketten und Preisen bringen wird oder ob politische Ereignisse, die Entwicklung der Corona-Pandemie in China oder unerwartete Faktoren wie Naturereignisse erneut für unangenehme Überraschungen sorgen werden. Schon jetzt wird aber deutlich, dass sich die Chemieunternehmen in ihrer Antwort auf die Veränderungen in zwei Gruppen teilen:

  • Die einen gehen davon aus, dass mit einer Rückkehr zu einem wie auch immer definierten „Normalzustand“ 2023 oder 2024 auch die Bedeutung des Themas Supply-Chain-Management wieder abnehmen wird. Es wird wieder zu einer essenziellen, aber nicht strategischen (d.h. nicht für die eigene Wettbewerbsposition relevanten) Funktion, die den externen Herausforderungen reaktiv und inkrementell begegnet.
  • Andere Chemieunternehmen haben Supply-Chain-Management als strategisches Thema erkannt und definiert, das sie auch dann mit Priorität weiterverfolgen, wenn sich die äußeren Bedingungen wieder normalisieren sollten. Aus ihrer Sicht hängt die künftige Wettbewerbsposition auch davon ab, die konzeptionellen, technologischen und personellen Fähigkeiten im Supply-Chain-Management deutlich zu steigern. Für ein möglicherweise dauerhaft volatiles Planungsumfeld sind diese Unternehmen dann besser gewappnet.

Beide Denkrichtungen unterscheiden sich nicht so sehr in den zu behandelnden Themen, denn die werden in hohem Maße durch externe Faktoren gesetzt. Die Unternehmen, die SCM als strategische Herausforderung sehen, gehen diese Themen aber langfristiger und systematischer an. Das möchten wir an fünf Themen erläutern, die die Agenda in diesem Jahr bestimmen dürften.

Supply-Chain-Risikomanagement / Resilienz

Dass ein frühzeitiges Erkennen, vor allem aber eine schnellere und bessere Reaktion auf Disruptionen in der Supply Chain einen massiven Vorteil verschafft, dürften die meisten Player erkannt haben, zumal die Vorteile mittlerweile gut quantifizierbar sind. Unterschiedlich ausgeprägt ist die Bereitschaft, die dafür notwendigen Fähigkeiten systematisch aufzubauen und zu steigern, und weiterhin darin zu investieren. Zurzeit beobachten wir vor allem in den Life Sciences, Pharma und Agrochemie, Initiativen zur Verbesserung des Risikomanagements bzw. der Resilienz. Dabei verlagert sich der Schwerpunkt weg von der Früherkennung von Risiken hin zu vorkonfigurierten Antworten auf typische Disruptionen und zu strukturellen Verbesserungen. So geht es etwa um das systematische Erkennen von Engpassressourcen (z.B. Werken oder Lieferanten) in komplexen Wertschöpfungsketten, oder das Eingrenzen des Optionenraums bei der Antwort auf bei Disruptionen zu erwartende Ereignisse (z.B. den Ausfall eines Lieferanten oder massive Preissteigerungen bei einem Rohstoff). Oftmals kommen bei diesen Initiativen Advanced Analytics zum Einsatz, beispielsweise bei Entwicklung digitaler Modelle von Wertschöpfungsketten (etwas ungenau, aber gerne als „Digitale Zwillinge“ bezeichnet). Andere Vertreter der Branche gehen soweit, unternehmensweite „Risk Management Frameworks“ zu entwickeln, die eine Grundlage für alle künftigen Analysen (z.B. Kalkulation der Auswirkungen von Risiken), Aktionen (zur Risikominderung) und Systeme (z.B. IT-Tools) im Risikomanagement bieten sollen. Viele dieser Ansätze haben wir dem Beitrag „Trends 2023 – stepping into a new supply chain era“ näher vorgestellt.

Für die industrielle Chemie wird sich 2023 die Frage stellen, ob sie mit diesen Vorreitern Schritt halten kann oder beim vorausschauenden Risikomanagement zurückfällt. Besonders stark sollte das Interesse eigentlich bei Unternehmen mit komplexen, globalen Wertschöpfungsketten und hohem Outsourcinggrad sein. Schon bisher mangelte es nicht an der Erkenntnis, wie wichtig z.B. der Einsatz von Advanced Analytics bei der Simulation von Disruptionen in Wertschöpfungsketten ist, aber es fehlten oft die Fähigkeit und die Bereitschaft, solche Innovationen auch umzusetzen. Diese Bereitschaft wiederum wird bei den Chemieunternehmen ausgeprägter sein, die SCM als strategisches Thema definiert haben.

Regionalisierung von Supply Chains

Eine Antwort auf die Disruptionen der jüngsten Vergangenheit – vor allem, wenn man sie nicht als abgeschlossenes Thema ansieht – ist das Bemühen, Wertschöpfungsketten robuster, weniger risikoanfällig zu machen, und das heißt bei globalen Wertschöpfungsketten oft, sie zu regionalisieren. Regionalisierung umfasst als Möglichkeiten höhere Pufferbestände in Lagern in der Bestimmungsregion, mehr Läger in den Bestimmungsregionen oder sogar die Verlagerung bestimmter Wertschöpfungsschritte, z.B. Formulierung oder Compoundierung näher zu den Kunden.

Bei einer stark auf Exporte ausgerichteten Branche bedeutet das, wenn man auch die Faktoren Energiekosten und Fachkräfte bedenkt, tendenziell eine Verlagerung in andere Regionen und damit eine ungünstige Entwicklung für den Standort Deutschland.

Bestandsmanagement

Wie oben bereits angedeutet, wurden mit dem Nachfrageschub nach Auslaufen vieler Coronarestriktionen Bestände aufgebaut, um Schwankungen in der Belieferung und der Nachfrage abzufedern. Im vergangenen Jahr wurden Bestände oftmals wieder abgebaut, nicht nur aufgrund nachlassender Spannungen in den Lieferketten, sondern auch durch die Furcht, womöglich mit überhöhtem Working Capital in eine Rezession hineinzulaufen.

Während manche Chemieunternehmen es bei kurzfristigen Hau-Ruck-Aktionen belassen, haben andere erkannt, dass ohne eine Steigerung der Fähigkeiten im Bestandsmanagement (z.B. bei der Setzung bzw. Überprüfung von Zielgrößen) und in der Supply-Chain-Planung diese Oszillationen auch in Zukunft nicht abgestellt werden können. Hier berührt sich das Bestandsmanagement mit dem Thema Planung, das zurzeit stark durch Veränderungen bei der unterstützenden IT-Tools getrieben wird.

Implementierung neuer Planungstools

Nach einer Phase des Abwartens haben jetzt viele Chemieunternehmen begonnen, neue Software zur Unterstützung der Supply-Chain-Planung einzuführen. Ein Anstoß dafür ist das absehbare Auslaufen der Wartung für SAP APO. Bei den Motiven und Zielen der Implementierung zeigt sich wieder der unterschiedliche Ansatz im Supply-Chain-Management. Während die Implementierung neuer Tools (seien es SAP IBP, OMP, Kinaxis oder andere) für die einen Chemieunternehmen nur eine technische Migration, eine Art Pflichtübung ist, nutzen die anderen sie, um ihre Planungsprozesse zu verbessern oder gar innovative Planungskonzepte (wie zum Beispiel Demand-Driven MRP) einzuführen.

Auch für die letztere Gruppe stellt sich die Implementierung neuer Tools als komplexe Herausforderung dar, weil die einzelnen Geschäftsbereiche innerhalb eines Chemieunternehmens sich oftmals stark in der Reife der Planungskonzepte und -prozesse unterscheiden:

  • In manchen Geschäften fehlt es bereits an elementaren Voraussetzungen für moderne Planung, zum Beispiel einem gelebten S&OP-Prozess. Hier wurde die bisherige Software entweder nicht oder nur unzureichend genutzt. In diesen Fällen sollte vor der Implementierung neuer Tools eine Basis mit besseren Prozessen und Daten gelegt werden.
  • Andere Geschäfte haben die bisherige Planungssoftware nah am Standard betrieben. Hier stellen sich beim Übergang auf neue Lösungen die geringsten Probleme (möglich wären auch standardisierte Cloudlösung), allerdings sollte geprüft werden, ob verbesserte Planungskonzepte möglich sind, die jetzt auch von der Software unterstützt werden.
  • Eine dritte Gruppe von Geschäftsbereichen hat die bisherige Software stark auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten (gecustomized), oftmals mit intensivem konzeptionellen Einsatz des SCM. Hier stellt sich die Frage, welches der heute erhältlichen Tools diese Ansätze am ehesten bzw. mit dem geringsten Anpassungsaufwand unterstützt – oder, ob die bisherigen Ansätze überdacht werden müssen. Es verwundert nicht, dass gerade diese Nutzergruppe mit der Einführung neuer Tools oft noch zögert.

Nur diejenigen Chemieunternehmen, die sich bewusst in diesem Optionenraum bewegen, und richtige Entscheidungen, z.B. bei der Identifizierung der erfolgskritischen Planungsfunktionen oder der Sequenz der Implementierung, treffen, werden damit wirklich Wert schaffen. Dieser Wert sollte auch nachgewiesen werden, was vom Supply-Chain-Management die Fähigkeit verlangt, die Erträge in einem plausiblen Business Case abzubilden, der sich auch nachverfolgen lässt. In vielen anderen Fällen, man muss es so hart sagen, werden den „stranded investments“ für die bisherigen, oft unzureichend genutzten Tools nur weitere folgen.

Supply-Chain-Management als Teil der Investment-Story

Aus Sicht des Top Managements von Chemieunternehmen sind Anpassungen des Geschäftsportfolios nach wie vor der wichtigste Werthebel. Unterschätzt wird oft, dass mangelnde Fähigkeiten im Supply-Chain-Management sich als ernstzunehmende Bremse für profitables Wachstum erweisen können, egal ob es um organisches oder anorganisches Wachstum geht. Durch M&A werden oftmals Geschäfte zusammengeführt, die sehr unterschiedliche Reifegrade im SCM aufweisen, was die Chance eröffnet, das gesamte Unternehmen schnell auf ein höheres Niveau zu bringen – wenn sie denn genutzt wird.

Supply-Chain-Themen und -Fähigkeiten eine größere Bedeutung bei Portfoliomaßnahmen zu geben, verlangt dem SCM von Chemieunternehmen einiges ab: Die Bedeutung des SCM für das Wachstum bzw. die erfolgreiche Integration muss anhand von Beispielen dargelegt und möglichst quantifiziert, der Reifegrad von SCM-Organisationen schnell bestimmt und die Verbesserungen im Rahmen der Integration zügig identifiziert und durch einen Business Case hinterlegt werden.

Hier haben wir es mit dem klasssichen Henne-Ei-Problem zu tun: Je stärker das SCM eines Chemieunternehmens heute aufgestellt ist und je besser seine Fähigkeiten sind, umso eher wird es den Aspekt Supply Chain auch im M&A-Prozess zur Geltung bringen. Auch hier werden sich diejenigen Unternehmen langfristig einen Wettbewerbsvorteil erarbeiten, die SCM als strategisches Thema erkannt haben.

In unserem White Paper zur Zukunft des SCM in der chemischen Industrie haben wir die Prognose geäußert, dass die Bedeutung dieser in der Vergangenheit oft stiefmütterlich behandelten Funktion zunehmen werde. Das beruhte auf Entwicklungen, die vor den Corona- und Post-Corona-Disruptionen sichtbar waren, etwa veränderten Kundenanforderungen und neuen Technologien. Mit den und durch die Disruptionen hat diese Aufwertung noch einen zusätzlichen Schub bekommen. Damit wird sich aber auch der Abstand zwischen den Chemieunternehmen, die die Neuausrichtung des SCM strategisch vorantreiben, und denen, die eher reagieren, vergrößern. Am Umgang mit der hier aufgezeigten Agenda für 2023 wird sich diese Differenzierung deutlich zeigen.

Wir danken Dr. Yorck Dietrich für seinen wertvollen Beitrag zu diesem Artikel.

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