Seit Jahren wird vorausgesagt, dass die Digitalisierung die Geschäftsmodelle in der chemischen Industrie grundlegend verändern werde. Doch wird die Welt von Chemie 4.0 allmählich Wirklichkeit oder handelt es sich noch immer um eine reine Vision? Oder ist Chemie 4.0, wie viele noch immer denken, aber nur wenige laut sagen, eher ein Hype, wie der um den E-Commerce vor rund zwanzig Jahren, der schnell vorbei ist, wenn die Konjunktur abkühlt und die Unternehmen nicht mehr bereit sind, Geld für „schicke“ Innovationen auszugeben?

Die Antwort lautet: Chemie 4.0 wird tatsächlich Realität, allerdings langsamer als erwartet. Erst jetzt sind seit Jahren oder Jahrzehnten bestehende Digitaltechnologien so weit ausgereift, dass sie einen Mehrwert für Chemieunternehmen schaffen können. So ist zum Beispiel die Idee, die Produktallokation in chemischen Wertschöpfungsketten mithilfe der IT zu steuern, keineswegs neu. Statistische Programmiersprachen wie „R“ oder „Python“, die zur Modellierung typischer Entscheidungen im Management von Wertschöpfungsketten eingesetzt werden können, sind seit fast dreißig Jahren bekannt. Doch erst heute und mit der Hilfe von Anwendern wie Google oder Facebook sind ihre Funktionsbibliotheken leistungsfähig genug, um die Modellierung kompletter Wertschöpfungsketten mit allen Komplexitäten in den Produkt- und Kundenportfolios zu ermöglichen. Mit einer auf statistischen Modellen einer Wertschöpfungskette beruhenden Unterstützung für Managemententscheidungen sind bei minimalen Investitionen Margenverbesserungen um bis zu 0,5 % möglich.

Blockchain- und „Hypertrust“-Anwendungen

In anderen Fällen müssen für das tägliche Geschäft unterschiedliche Technologien kombiniert werden. Die (auch nicht mehr ganz neue) Blockchain-Technologie kann verwendet werden, um die Teilnehmer in einem Netzwerk für personalisierte Medizin oder Chemieproduzenten, Aufsichtsbehörden und Kunden in einer regulierten chemischen Wertschöpfungskette zu verbinden. In beiden Fällen müssen allerdings bestimmte Informationen vor dem Zugriff durch alle Teilnehmer geschützt werden. Diese Anforderung widerspricht dem Grundprinzip der Blockchain. Solche Informationen, die vor unerwünschtem Zugriff zu schützen sind, können beispielsweise sensible Patientendaten oder patentierte Molekularformeln sein. In diesem Fall können „Hypertrust“-Anwendungen diese Informationen gegen nicht autorisierte Blockchain-Teilnehmer abschirmen.

Demand-Driven Supply Chain Management

Ein weiteres Beispiel ist das Demand-Driven Supply Chain Management. Dieser Planungsansatz basiert nicht primär auf Prognosedaten, sondern auf realen Nachfragesignalen des Marktes. So wird ein besseres Gleichgewicht aus Kapazitätsauslastung, Beständen und Durchlaufzeiten erreicht. Derzeit kommt er vor allem in Pharmaunternehmen zur Anwendung sowie bei einigen Pionieren in der chemischen Industrie. Das Interesse nimmt jedoch vor dem Hintergrund einer neuen Generation von Planungstools (z.B. SAP IBP) zu. Das volle Potenzial dieser Technologien kann jedoch nur zusammen mit künstlicher Intelligenz ausgeschöpft werden, beispielsweise zur Unterstützung der Definition von Parametern für Pufferbestände.

Die richtige Kombination

Diese Beispiele sind zwar vielleicht recht interessant, aber kann man aus ihnen die Entstehung neuer Geschäftsmodelle für die chemische Industrie ableiten? Sicherlich nicht. Digitale Grundlagentechnologien beeinflussen das Betriebsmodell eines Chemieunternehmens, also die Prozesse der Auftragsabwicklung, die Struktur der Lieferkette sowie die Transparenz der Produkt- und Wertströme. Nur durch eine Kombination mehrerer digitaler Grundlagentechnologien werden neue Betriebsmodelle realisierbar. Zum Beispiel würde ein Spezialchemieunternehmen, das neue wertschöpfende Dienstleitungen anzubieten plant oder Endkunden direkt beliefern möchte, eine Reihe von digitalen Grundlagentechnologien nutzen, die dabei helfen, die entstehende Komplexität zu handhaben, z. B. Webshops, künstliche Intelligenz für Prognosen, flexiblere Planung oder auf dem Rhythm Wheel basierte Produktionspläne. Zusammen bilden diese Grundlagentechnologien die Stützpfeiler für ein Betriebsmodell, das das Wertversprechen eines neues Geschäftsmodells unterstützen kann. Es ist daher keine einzelne digitale Innovation, die ein neues Geschäftsmodell ermöglicht, sondern die richtige Kombination aus ausgereiften digitalen Grundlagentechnologien zur Unterstützung der benötigten Betriebsmodelle, um die Realisierung neuer Wertversprechen zu gewährleisten.

Wer profitiert?

Lässt sich im digitalen Zeitalter eine bestimmte Richtung für die chemische Industrie erkennen? Wenn wir die digitalen Grundlagentechnologien betrachten, die bereits existieren und – zumindest bis zu einem gewissen Grad – bereits von Chemieunternehmen genutzt werden (die pharmazeutische Industrie steht hier, wie so oft, an der Spitze, was angewandte Innovationen anbelangt), wird klar ersichtlich, dass einige Chemieunternehmen mehr als andere von Chemie 4.0 profitieren werden. Viele digitale Grundlagentechnologien helfen bei der Handhabung der zunehmenden Komplexität, die mit dem Übergang zur Spezialchemie und zu Mehrwertdienstleistungen sowie mit der Positionierung näher am (End-)Kunden verbunden ist. Die Fokussierung auf Spezialchemikalien allein ist kein Erfolgsrezept, da diese Sparte im Spannungsfeld zwischen Komplexität und Kommerzialisierung steht. Nur mit den geeigneten Betriebsmodellen und geschickt kombinierten digitalen Grundlagentechnologien können Spezialchemieunternehmen schlanke Kostenstrukturen trotz Komplexität erreichen.

Der augenscheinliche Widerspruch zwischen „schlank und flexibel“ ist mit Chemie 4.0 auflösbar geworden. Erste Beispiele aus der Praxis sind bereits zu beobachten, wenngleich noch vereinzelt. Chemieunternehmen, die die Verbindung zwischen digitalen Grundlagentechnologien und Betriebsmodellen erkennen und die richtigen Faktoren für die Unterstützung geeigneter Betriebsmodelle kombinieren, werden ihren Wettbewerbern voraus sein.

Die digitale Zukunft hat tatsächlich begonnen.

Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in Chimica Oggi – Chemistry Today – Bnd. 37(4) Juli/August 2019

Wir danken Dr. Yorck Dietrich für seinen wertvollen Beitrag zu diesem Artikel.

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